MUTTER UND VATER DROHT DAS ALLEINSEIN

„Zwei Personen reichen einfach nicht, um so ein kleines Wesen zu versorgen“, seufze ich Paul entgegen, als wir uns nachts beim Schichtwechsel im Flur treffen. Die Regel geht so: Bis 5 Uhr übernehme ich unsere Tochter, danach ist er dran. Viel Schlaf bekommt hier niemand, ausreichend Schlaf im besten Fall wenigstens Tilda, die ich gerade aus ihrem Kinderzimmer husten höre.

Diese nächtliche Feststellung – zwei Eltern sind zu wenig – hat für mich politische Implikationen. Es bedeutet nicht, dass es unmöglich ist, ein Kind großzuziehen, dass das nicht viele Menschen gerade sogar allein meistern.

Es geht um mehr. Ich bin schwanger geworden, ich hatte Glück und einen Partner, der gesagt hat: „Okay, let’s do it“. Wir sind beide leistungsfähig, privilegiert, wohnen in Deutschland, einem der sichersten und reichsten Länder dieser Welt. Aber das System Elternschaft, das uns seitdem verschluckt hat, baut auf Krise. Wenn das Gleiche vor 50 Jahren passiert wäre, hätten wir heiraten müssen. Wir hätten von einem Gehalt (des Mannes) unsere Familie ernähren können. Jetzt im Jahr 2024 müssen beide arbeiten, weil der Lebensstandard in einer Großstadt mit einem Einkommen nicht zu halten ist. Die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die ein Kind braucht, ist seit den Fünfzigern nicht gesunken, eher gestiegen durch kindgerechtere Erziehungsvorstellungen (zum Glück!).

So sehr viel hat sich seit früher nicht geändert

Es dürfte klar sein, dass ich mir das System der Fünfziger nicht zurückwünsche. Aber manchmal hilft es, sich in Erinnerung zu rufen, worauf das heutige System aufbaut. Das sich gar nicht so viel geändert hat, außer dass es heute zwei Einkommen für eine Familie braucht. Die Realität ist, dass sich zwei Menschen um ein Kind kümmern sollen, und dass das zu wenig Zeit ist, wenn diese zwei Menschen auch noch einen Job haben.

Das Konzept Kernfamilie, in das Paul und ich durch meine Schwangerschaft unversehens hineingerutscht sind, ist ein verqueres System, in dem sich trad-wife-Vorstellungen mit einem sich neu ordnenden Arbeitsmarkt und mangelnden Kitaplätzen (mit Betreuungsangeboten von maximal 9 bis 15 Uhr, wie soll man da Vollzeit arbeiten?) mischen. Dieses System ruft einem zu, dass wenn man erschöpft ist, man sich einfach als individuelle Person „nicht genug angestrengt hat“. Dies sei ein individuelles Versagen.

Also frage ich mich manchmal, woher meine eigenen (vermeintlich individuellen) Entscheidungen rühren. Warum wollte ich während der Schwangerschaft unbedingt mit Paul zusammenziehen (obwohl wir vorher beide gesagt hatten, dass wir da noch keine Lust draufhaben)? Warum habe ich nicht zu meiner besten Freundin gesagt: „Hey, ich bin schwanger, wir beide machen das jetzt“? Oder zu meiner Mutter?

Fünf Leute als Elterngemeinschaft – das wär’s

Warum war es undenkbar, dass wir nach Befund des Herzschlages nicht fünf Leute zusammengetrommelt haben und gesagt haben: Wer ist dabei? Bitte einmal lebenslang verpflichten, dieses Wesen zusammen aufzuziehen? Ja, krasse Forderung, oder? Aber das erwarten wir ja von jeder Person, die einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hält, oder?

Wenn meine Elternschaft ein Job wäre, würde ich jetzt nach drei Jahren ohne durchgeschlafene Nacht gerne einmal Teilzeit anmelden. Denn ich kann diesen Job nur gut in Teilzeit machen (was in Stunden immer noch 40 in der Woche sind – also eigentlich Vollzeit). Gute Betreuung kann ich leisten, wenn ich mich um meine Tochter durchschnittlich fünf Stunden am Tag kümmere: morgens zweieinhalb Stunden, bis ich sie zur Kita bringe, dann abends mindestens zweieinhalb Stunden plus die Zeit, die wir zu dritt verbringen am Nachmittag und nachts für sie da sein.

Sobald aber meine Tochter krank ist, wird es schwieriger. Hier kommen wir zu zweit immer wieder an unsere Grenzen. Und wer leidet ebenso darunter? Natürlich unsere Tochter, die doch merkt, wenn ihre beiden Bezugspersonen müde und erschöpft sind und nicht mehr alle ihre großen Emotionen auffangen können.

Eine Überdosis Care-Arbeit

Ich beichte diese Gedanken meiner besten Freundin. Sie ist keine Mutter und ich hoffe auf ihr Verständnis. Gleichzeitig ist meine Scham so groß, diese Gedanken zu denken und zu fühlen, so groß in meinem Kopf sind misogyne Mythen und Narrative über berechnende Frauen, faule Cappucino-Mamas, toxische und selbstbezogene Rabenmütter. „Ey, ich versteh‘ dich total, was glaubst du, wie es mir nach zwei Stunden babysitten geht?“, erwidert sie empört. „Ich bin danach immer völlig fertig! Du hast einfach eine Überdosis Care-Arbeit geleistet, du bist überfüllt davon, ich hätte an deiner Stelle auch keine Lust mehr.“

Ich nicke, aber denke insgeheim: Sie darf das auch nur sagen, weil das Babysitter-Kind nicht ihr eigenes ist. Als Mutter nüchtern zu konstatieren, dass ich auch oft nach zwei Stunden Spielen, Vorlesen und mich Anbrüllen-Lassen keine Lust mehr auf meine Tochter habe, kommt mir vor wie ein Schwerverbrechen. In dem Moment, in dem ich das schreibe, will ich das natürlich alles wieder relativieren. Ich will schreien, wie sehr ich meine Tochter liebe, dass ich alles für sie geben würde.

Dieses System baut auf Mütter wie mich. Mütter, die über ihre Grenzen gehen. Die immer noch lächeln und einen Witz machen, obwohl sie schon völlig fertig sind. Und indem ich jetzt hier schreibe, dass ich zwar meine Tochter nicht im Stich lasse, aber manchmal verzweifle über meine gelebte Mutterschaft, will ich feststellen: Mein eigenes gebautes Familiensystem, Glück zu dritt, ist systemerhaltend. Ich will, dass sich etwas ändert, ändere aber selbst gerade nichts.

Ich will das Menschen, die keine Kinder haben, mit anpacken. Dass Menschen, die Kinder haben, andere mehr daran teilhaben lassen. Dass Väter und Mutter beide verpflichtend mindestens ein Jahr lang in Elternzeit gehen müssen und dabei vom Staat vollen Lohnausgleich bekommen. Dass Kitas keine Aufbewahrungszentren sind, sondern Orte der engen Betreuung, mit Bezugspersonen für die Kinder. Dass Großeltern, wenn sie wollen, die Enkelkinder mitaufziehen.

Dass Freunde abends die Insbettgeh-Routine machen. Das wir uns nicht verschanzen in unseren Zwei-Zimmer Wohnungen und Einfamilien-Häusern. Dass es andere Konzepte nach Trennung der Eltern gibt als das Zwei-Wochen-Vater-Modell. Der Psychologe Joseph Heinrich bezeichnet die deutsche Gesellschaft als W.E.I.R.D. (Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic) und das ist auch mein Gesamtgefühl der letzten drei Jahre als Mutter. Irgendwas läuft hier weird. Unser System ist komisch. Es muss sich etwas ändern.

2024-04-16T10:08:57Z dg43tfdfdgfd